Patricio Farrell interviewte Meister Hoang Quang zu seinem Leben in Deutschland, seitdem er als Gastarbeiter in die DDR kam. Dieses Interview ist unter anderem im Heft „zwanzig nach“ der Konrad Adenauer Stiftung und auf Zeit Online erschienen.

Hoang Quang

Als Gastarbeiter kam er 1987 in die DDR, heute besitzt Hoang Quang ein eigenes Textilgeschäft und leitet eine Kung-Fu-Schule. Die Geschichte eines Aufstiegs mit Hindernissen.

Jeden Morgen um 6.30 Uhr klingelt sein Wecker. Dann übt Hoang Quang eine Stunde lang den „Tiger“ im Innenhof: Kurz und kraftvoll stößt er beide Hände in die Luft, die Finger wie Krallen gekrümmt. Hoang ist Großmeister im vietnamesischen „Nam Hong Son“-Kung Fu. Einer von zwanzig weltweit, so schätzt er. Kung Fu ist für ihn Lebensphilosophie, Lebensversicherung und Sport – und zwar genau in dieser Reihenfolge.

Hoang Quang, 57, ist einer von rund 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeitern, die vor der Wende in die DDR kamen. Allein zwischen 1949 und 1961 hatten 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen. Menschen, die dem Land fehlten. Deswegen sollten günstige Arbeiter aus „sozialistischen Bruderländern“ die Planwirtschaft stützen. Mehr als die Hälfte dieser Vertragsarbeiter kam aus Vietnam. Ihre Arbeitsverträge waren auf fünf Jahre begrenzt. Als die Arbeitslosigkeit nach 1989 rasant stieg, wurden ihnen Rückflüge in die Herkunftsländer angeboten. Hoang blieb. „Wegen der Möglichkeiten“, sagt er.

An den 31. Juli 1987, das Datum seiner Ankunft in Leipzig, erinnert er sich noch genau. „Es war warm, aber nicht so warm wie in Vietnam“, sagt er. Wegen der Arbeit sei er damals in die DDR gekommen. „Aber ein bisschen neugierig war ich auch.“ Er spricht in abgehackten Sätzen. Häufig fehlt die Wortendung. Das „S“ auszusprechen, fällt ihm besonders schwer - auch heute noch.

Seine Eltern nannten ihn Quang, so wie die Provinz im Norden Vietnams, in der er zur Welt kam. „Ich liebe die Landschaft dort“, sagt er. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als er sich an seine Kindheit erinnert. „Unser Spielzeug mussten wir uns damals selber bauen.“ Er zieht seine Augenbrauen hoch. Über seinen schmalen Augen sind sie fast nicht zu erkennen.

Hoang sitzt in seinem Textilgeschäft hinter einem kleinen Tisch, auf dem eine Kasse und eine Nähmaschine stehen. Auf seinem Schoß liegt aufgeschlagen die „Bild“-Zeitung. In seinem Laden verkauft er Kleidung, Deckenlampen und Parfüms. Der Duft von vietnamesischem Kaffee liegt in der Luft. Als ein Kunde den Laden betritt, springt Hoang auf: „Kann ich helfen?“

In Hanoi hat Hoang vier Jahre lang Mathematik und Informatik studiert. In Leipzig arbeitete er nach seiner Ankunft als Gruppenleiter beim VEB Bekleidungswerk „vestis“. Rund 260 Mitarbeiter unterstanden ihm dort. Seine Aufgabe bestand darin, die Arbeitsabläufe zwischen vier Werken zu verbessern. Das ging nur mit Hilfe von Dolmetschern. Bei der Arbeit lernte er auch seine Frau Hoang Lan kennen. Kinder hatten sie zunächst keine, weil Schwangerschaften laut Arbeitsvertrag ein Kündigungsgrund waren.

Die Tür geht auf und Hoangs Sohn Viet betritt das Geschäft. Er trägt Jogginghose und einen Ohrring. Viet stellt sich neben seinen Vater, den er um einen halben Kopf überragt. „Ich hätte mich damals nicht getraut, ohne Verwandte in ein anderes Land auszuwandern“, sagt er. Sein Vater, fügt er bewundernd hinzu, sei charakterstark und intelligent. „Er gibt mir sogar Nachhilfe in Mathe, wenn ich etwas nicht verstanden habe.“

Anfang der neunziger Jahre verkaufte Hoang Kleidung und Textilien auf dem Bayerischen Platz in Leipzig. „Bei Kälte wie bei Regen“, sagt er. Neben Indern und Pakistanern baute Hoang mit seiner Frau den Stand auf – und abends wieder ab. Acht Jahre lang.

An einem Tag im Jahr 1991 nähern sich rund zwanzig Skinheads seinem Verkaufsstand. Mit Gaspistolen, Messern und leeren Bierflaschen bedrohen sie ihn. „Ausländer raus, Ausländer raus“, grölen sie. Geld und Waren wollen sie. Doch der Kung-Fu-Meister weiß sich zu wehren. „Angst hatte ich nicht“, sagt er. Mit einem Nuntschatku hält er die Skinheads in Schach, bis die Polizei eintrifft. Als sie endlich kommt, ist kein Skinhead mehr zu sehen. „Die Polizei hat nur meine Daten aufgenommen“, erinnert er sich heute. Das Verfahren wurde wenige Tage später eingestellt.

1993 kam Viet zur Welt. In der Schule machte auch er Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit. „Fidschi“ schimpften ihn einige Mitschüler. Kung Fu half ihm, sich vor den Hänseleien zu schützen. Mittlerweile hat Viet viele Freunde. „Ich möchte hier meine Familie gründen und mein Geld verdienen.“ Nach dem Abitur in zweieinhalb Jahren will er Informatik studieren. Sein Vater lächelt.

1998 erhielt Hoang mit seiner Familie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und konnte sein Textilgeschäft eröffnen. „Der eigene Laden bedeutet mir sehr viel“, sagt er.

Aber nicht so viel wie seine Kung-Fu-Schule. Seit siebzehn Jahren betreibt er die Sportschule in Leipzig, nicht so sehr wegen des Geldes. Sondern weil er seinem Ur-Großvater, der selber eine Kampfschule in Hanoi geleitet hatte, versprach, den Kung-Fu-Stil weiter zu entwickeln. Auch im Ausland.

Jeden Abend trainiert er. Die Kung-Fu-Schüler in der Turnhalle des Immanuel-Kant-Gymnasiums schauen zu ihm. Hoang brüllt ihnen zu: „In die Knie! Dreihundertsechzig Grad springen!“. Seine Schüler wischen sich schon nach wenigen Minuten die Schweißperlen von der Stirn. Hoang ist die Anstrengung nicht anzusehen.

Nach eineinhalb Stunden Training beginnt der Endspurt. „Die Finger wie einen Drachen halten“, ruft Hoang seinen Schülern zu. Sie versuchen, seine Gesten nachzuahmen. Hoang nimmt sich Zeit, um die Finger eines Schülers in die richtige Stellung zu bringen. Danach übt er etwas abseits mit den Anfängern. Ein Schüler scheitert zum wiederholten Mal an einer Figur. Als Hoang das bemerkt, holt er ihn in die Mitte, klopft ihm auf die Schulter und sagt: „Nicht aufgeben!“

Autor: Patricio Farrell